Wenn man sich den Ausdruck „Biologische Breite“ einmal auf der Zunge zergehen lässt, schmeckt man eigentlich gleich, dass es sich nicht um ein wirkliches anatomisches Substrat handeln kann. Unter dieser ominösen „Biologischen Breite“ versteht man – wenn wir die zahllosen Definitions-Bemühungen richtig zusammenfassen – den Abstand zwischen Knochen und künstlichem Kronenrand. Dieser soll mindestens 2 mm betragen und darf nicht unterschritten, die „Biologische Breite“ also nicht „verletzt“ werden, wie es so schön heißt, weil es sich so schön anhört. Wird sie dennoch verletzt, hat das in den Augen derjenigen, die diesen Begriff für die Erklärung eigener und anderer, insbesondere ästhetischer Misserfolge in der prothetischen Versorgung gerne verwenden, negative Folgen für das Parodontium, die sich insbesondere in Form von entzündlich geschwollenem, gerne und auf Berührung schnell blutenden, manchmal auch bläulich-livide verfärbtem, wulstigem Zahnfleischsäumen manifestieren. Mit einem Wort, man sieht sofort, dass hier die biologische Breite mehr oder weniger übel verletzt wurde.

Wir haben uns schon immer gefragt, ob diejenigen, die die biologische Breite des Patienten unbedingt unverletzt sehen wollen, wohl nur gesunde Zähne überkronen, und was sie denn wohl mit den schwer erkrankten, in unseren Augen aber dennoch erhaltungswürdigen Zahnruinen ihrer Patienten machen, bei deren Versorgung sich eine Verletzung in keinem Falle vermeiden lässt und uns in der Folge auf den Standpunkt gestellt, dass Zahnerhalt vor Unverletztheit der Biologischen Breite gehe, und sich diese, wenn sie denn als zu beachtende Struktur wirklich existiere, was wir immer bezweifelt haben, gefälligst neu einzustellen habe.

Präprothetisches OPT aus 1996, deutliche Zeichen für massiven Bruxismus, bei sehr resistentem Parodontium und/oder relativ weicher Zahnsubstanz (Klick!)

Heute würden wir einen solchen Fall primär verblockt mit sekundär verlöteten Einzelkronen von 3 auf 3 versorgen (siehe z.B. auch sekundaer2 ) und denken, dass wir das folgende Unglück dadurch sicher vermieden hätten. Damals waren wir aufgrund eindeutiger Erfahrungen jedoch gerade erst dabei, uns mehr und mehr von der Lehrmeinung zu lösen und haben die Zähne bei gutem Knochen und fehlenden Lockerungsgraden leider lediglich paarweise primär geschient.

Im Juni 2002 stellte sich die Patientin mit Zustand nach nach einem nicht besonders aufregendem Frontzahntrauma vor einigen Monaten ohne Beschädigung der Keramik mit Aufbissbeschwerden am devitalen Zahn 11 mit aufgrund der Verblockung mit 21 nicht sicher beurteilbarem Lockerungsgrad (zusammen L=0-I) vor. Die Desinfektionsphase nach Trepanation und Aufbereitung gestaltete sich unerklärlich langwierig mit mehreren Exazerbationen, so dass die definitive Wurzelfüllung erst im Oktober 2003 nach längerer Beschwerdefreiheit erfolgen konnte.

Im Juni 2004 stellte sich die Patientin erneut vor. Jetzt waren beide Kronen stark gelockert, aber nicht ohne Zerstörung entfernbar, weil der im Zahn 21 gelockerte Stift nicht entfernbar war. Nach Schlitzung, Aufbiegen und Entfernen der verblockten Kronen zeigte sich, dass die Wurzel von 11 unmittelbar am Kronenrand frakturiert und sich durch das jetzt mögliche Genackel in der Folge der Stift in 21 gelockert hatte.

Das linke Bild zeigt den Zustand unmittelbar vor Abdrucknahme nach Stiftversorgung von 11 und neuer Stiftversorgung von 21, Aufbaufüllung mit Kunststoff in SÄT, chirurgischer Kronenverlängerung an 11 mit dem Diamanten und tiefem Beschleifen von 11 und 21, um die Kronen mindestens 2 mm „auf Zahn zu setzten“, also die verbleibende Zahnsubstanz deutlich und zirkulär zu fassen, wobei die Präparation von 11 unmittelbar auf Knochenniveau unter maximaler, bei 21 unter deutlicher Verletzung der sogenannten Biologischen Breite erfolgte. Beachten Sie die ausgezeichnete Mundhygiene und die in der Folge fehlende Blutung nach Entfernen der Fäden und Abspülen der Stümpfe mit einem Luft-Wasser-Gemisch. Beachten sie auch die starke Abrasion der Unterkieferzähne bei Grunderkrankung Bruxismus.

Das rechte Bild zeigt die solide primär verblockten Kronen auf dem Modell. Aufgrund der Schwäche der Pfeiler und der bestehenden Grunderkrankung haben wir diesmal auf die ästhetisch ansprechendere Versorgung mit sekundär verlöteten Einzelkronen verzichtet. Im Vergleich mit der klinischen Situation vor Abdrucknahme sieht man sehr schön, wie lang die Kronen geworden sind und wie tief subgingival die Präparation insbesondere am Zahn 11 reicht.

Das klinische Bild 1 Woche nach Zementieren der Kronen lässt jedoch sämtliche klinischen Zeichen, die als Folge der Verletzung der biologischen Breite diskutiert und beschrieben werden, vermissen. Das Zahnfleisch imponiert im Gegenteil ausgesprochen reizlos, und aufgrund der Kronenform ist zu erwarten, dass sich die Lücken in den nächsten Wochen noch weiter mit papillenformender Gingiva auffüllen werden.

Bleibt also nur noch die Frage nach der Ursache der als Verletzung der Biologischen Breite fehlgedeuteten pathologischen Veränderungen der Gingiva an Kronenrändern in der Folge prothetischer Versorgungen zu beantworten. Dass es diese Befunde gibt, ist ja unstrittig, wir sehen sie auch. In der erdrückenden Mehrzahl der Fälle handelt es sich um die Folgen von Überlastung bei Früh- und Fehlkontakten, insbesondere auch in Kombination mit schlechten Gewohnheiten, die nach Beseitigung und/oder konsequenter Schienentherapie bei guter Mundhygiene spontan abheilen.

Siehe zu diesem Thema auch: Naturliche Hindernisse

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