Klinisch manifestierte Exazerbationen und röntgenologische Zeichen für die Entwicklung apikaler Aufhellungen auch Jahre nach primär erfolgreicher Wurzelbehandlung sind ein genau so bekanntes wie prozentual häufiges Phänomen in der Endodontie. Erfolgte die Behandlung lege artis durch mechanische Reinigung, chemische Reinigung und Obturation einschließlich des dichten Verschlusses der Kavität, so stellt sich die Frage, bei welchem Behandlungsschritt der entscheidende Fehler gemacht wurde, der zu dieser für alle Beteiligten ausgesprochen ärgerliche Spätkomplikation geführt hat, die dafür sorgt, dass den Chirurgen die Arbeit nicht ausgeht.
Von endodontischer Seite wird das „Koronale Leck“ (in Neudeutsch coronal leakage) für die erdrückende Mehrzahl der Fälle verantwortlich gemacht. Es herrscht die Vorstellung vor, dass im Sinne einer Reinfektion Keime aus der Mundhöhle im Extremfall in der Lage sind, den Zement einer gut passenden Krone zu durchwandern, anschließend die Aufbaufüllung zu überwinden, sich durch die Wurzelfüllung oder an ihr vorbei zu kämpfen, um letztlich den Periapex zu infizieren.
Einen Fall, bei dem es trotz extrem günstiger Bedingungen für die orale Flora zu keinerlei Reinfektion mit apikaler Beteiligung gekommen war, hatten wir an dieser Stelle ja schon einmal veröffentlicht („Das Märchen vom koronalen Leck„)
Da die Endodontologen die mangelhafte Obturation und den undichten koronalen Verschluss nach lege artis Wurzelbehandlung für die Reinfektion verantwortlich machen, werden immer raffiniertere mechanische Obturationsverfahren entwickelt und angewendet, die den Zugang für die Keime aus der Mundhöhle über den gefüllten Wurzelkanal zum Periapex hermetisch blockieren sollen. In jüngster Zeit findet nicht nur in den USA beispielsweise zunehmend Resilon an Stelle von Guttapercha Anwendung als Wurzelfüllmaterial. Anschließend wird ein Wurzelstift eingeklebt mit dem Ziel, einen sogenannten Monoblock ( Resilon-Monoblock- System (RMS) zu erzeugen. Im Tierexperiment konnte die Frequenz der Entstehung apikaler Entzündungen dadurch jedoch lediglich vermindert werden (Shipper G., J Endod. 2005 Feb).
Auch in diesem a.l. versorgten Fall mit nicht sehr beeindruckender Wurzel- und völlig undichter Deckfüllung wäre eine solche Extremleistung der verantwortlich gemachten Keime aus der Mundhöhle gar nicht erst erforderlich gewesen. Dies um so mehr als sich die distale Wurzelkaries sicher über Monate, wenn nicht über Jahre entwickelt hat, und die Bakterien in der Folge alle Zeit der Welt gehabt hätten, den Periapex über diese relativ kurze Distanz zu erreichen und zu infizieren. Zu einer apikalen Beherdung ist aber trotz dieses extremen koronalen Lecks nicht gekommen.
Natürlich gibt es sicher auch Fälle, bei denen ein über lange Zeit bestehendes koronales Leck für eine echte Reinfektion verantwortlich ist. In der neueren Literatur finden sich jedoch immer mehr wissenschaftliche Belege, die zeigen, dass in der erdrückenden Zahl der Fälle nicht die Reinfektion aus der der Mundhöhle heraus Ursache der späten apikalen Komplikation nach primär erfolgreicher Wurzelbehandlung ist, sondern das Wiederaufflammen der endodontischen Infektionskrankheit aufgrund bei der Primärbehandlung belassener Keime. Wenn Nair in einer neueren in vivo Studie mit außerordentlich überzeugendem Studiendesign nachweist, dass in mindestens 90% der nach dem sogenannten „Goldstandart“ behandelten Wurzelkanäle mit apikaler Ostitis belassene, gangränverursachende und in Biofilmen organisierte Keime nachzuweisen sind, dann verweist er damit dem „coronal leakage“ den weit abgeschlagenen Platz zu, der ihm gebührt. Denn wenn in 9 von 10 Fällen Keime in den vielen Bereichen der Verzweigungen und in den Nebenkanälchen und Tubuli, die einer mechanischen Reinigung nicht zugänglich sind, belassen werden, weil sie die Behandlung nach dem sogenannten „Goldstandard“ mit unvollständige chemische Desinfektion ganz offensichtlich überleben, dann muss man die orale Heimflora des Patienten für eine Reinfektion des Kanalsystems nicht mehr bemühen.
Dass die Erzeugung eines Monoblocks in den Hauptkanälen das Risiko einer apikalen Komplikation vermindert bzw. möglicherweise auch nur hinauszögert, muss in diesem Zusammenhang nicht verwundern. Bakterien vermehren sich in intrakanalären Hohlräumen. Je weniger Hohlräume in den Hauptkanälen vorhanden sind und je dichter deren Versiegelung ist, desto weniger Raum steht ihnen zur Vermehrung zu Verfügung, und desto länger wird es dauern, bis die kritische Zahl erreicht ist, die in Abhängigkeit der individuellen Immunantwort zur Exazerbation erforderlich ist.
Die neuen Studien von Nair, Chavez De Paz, Figdor, Tang, Rocas und Tronstad liefern damit auch endlich den wissenschaftlichen Beweis dafür, dass die Missachtung der von dem genialen deutschen Zahnarzt Otto Walkhoff bereits 1906 aufgestellte Forderung nach einer sorgfältigen chemische Aufbereitung auch derjenigen Bereiche des Kanalsytems, die für die mechanische Reinigung nicht zugänglich sind, verantwortlich für die hohe Versagerquote endodontischer Therapiemaßnahmen ist.