Keineswegs durch Zufall ist mir im November 2003, also viele Jahre nachdem ich die Timbuktu-Methode entwickelt und beschrieben habe, das Buch:

„Die Behandlung infizierter Pulpen und Wurzelkanäle und Ihrer Folgeerscheinungen“ von Dr. med. dent. Luigi Castagnola in die Hände gefallen, das 1951 erschienen ist.

Sie können das komplette Buch hier als PDF.datei herunterladen, die Datei ist allerdings 43 MB groß.

Castagnola war Oberassistent in Zürich. Das Buch widmete er „seinem hochverehrten Chef und Lehrer“ Prof. Dr. med. Walter Heß. Heß war derjenige, von dem die beeindruckenden anatomischen Bilder der variantenreichen Wurzelkanal-Anatomie stammen, bei deren Ansicht eigentlich jeder sofort begreifen muss, dass eine vollständige mechanische Aufbereitung und Reinigung des Wurzelkanalsystems völlig unmöglich ist. Prof. Otto Walkhoff (der übrigens unter anderem in Würzburg gelehrt hat) hatte seinerseits sein Buch „Mein System der medikamentösen Behandlung schwerer Erkrankungen der Zahnpulpa und des Peridontiums“ (erschienen 1928) diesem seinem Freunde Prof. W. Heß „im festen Vertrauen darauf, dass sein Werk in getreue Hände gelegt werde“ gewidmet.

Der Untertitel des Buches von Castagnola lautet:
“ 25jährige Erfahrung mit der Methode Walkhoff, deren Ausbau im Sinne der bis heute gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse auf Grund von 1000 Fällen in klinischer, röntgenologischer, bakteriologischer und pathohistologischer Richtung“

Dieses Buch ist (natürlich insbesondere für mich) faszinierend, zeigt es doch, dass ich mit der Timbuktu-Methode –wie ich das immer schon geglaubt und auch bei zahllosen Gelegenheiten geschrieben habe- nicht etwa etwas Neues beschrieben , sondern nur Altbekanntes weiterentwickelt, modernen Gegebenheiten angepasst und in diesem Sinne das Rad neu erfunden habe. Ich bin ganz offensichtlich – ohne jemals Wesentliches über Walkhoff und Heß gewusst oder von ihnen gelesen zu haben- durch einfaches logisches Denken und sorgfältiges klinisches Beobachten und Handeln zu genau den gleichen Ergebnissen wie sie gekommen. Allerdings musste ich CHKM nicht dank Walkhoff nicht auch noch erfinden, wozu es bei mir auch sicher nicht gereicht hätte.

Das Buch fängt schon gut an. Wenn Castagnola in seiner Einleitung schreibt: „Um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts (aus unserer heutigen Sicht meint er das vorletzte) war bei der Behandlung der gesunden sowie der erkrankten Zahnpulpa eine stark mechanisch-technische Auffassung vorherrschend….“….dann ist das ja ein Satz, den ich heute (eigen)ständig gebetsmühlenhaft wiederhole.

Der Grund, warum diese Nachuntersuchung an 1000 Fällen von Gangränbehandlung der Universitätsklinik Zürich (Beobachtungszeitraum 2-18 Jahre) durchgeführt wurde, war der, die Wirksamkeit der Walkhoff-Methode, die sich heftiger Kritik und sogar Anfeindungen ausgesetzt sah, wissenschaftlich zu untermauern. Die Qualität der Studie muss sich hinter dem, was heute so an statistischen Untersuchungen in der Endodontie veröffentlicht wird, weiß Gott nicht verstecken.

Die Walkhoff-Methode der Gangränbehandlung ging so:

a) möglichst gründliche mechanische Aufbereitung mit (wenn erzielbar) Durchstoßung des F. apikale bei Beherdung, um Zugang zum Entzündungsherd zu schaffen

b) sorgfältige Desinfektion mit CHKM (bis zur Sättigung mit Kampfer gepuffertes Paramonochlorphenol mit Mentholzusatz (so genanntes W3) in mehren Sitzungen

c) Wurzelfüllung mit sog. W1 (pastöses Gemisch von W3 und Jodoformpaste), möglichst mit Abfüllen der Herde und gegebenenfalls der Fisteln

Die Kritik gegen die Walkhoff-Methode richtete sich damals (wie teilweise noch heute) gegen unterschiedliche Punkte:

a) Die Methode produziert Granulome, anstatt sie auszuheilen Diesen Vorwurf konnte Castagnola in seiner Studie anhand beeindruckender röntgenologischer Verlaufskontrollen über viele Jahre ausräumen.

b) CHKM ist einweißfällend und schädigt daher das apikale Periodont. Diesen Vorwurf hatte schon Walkhoff widerlegt. Er war sich der eiweißfällenden Wirkung von Parachlorophenol sehr wohl bewusst und ist daher nicht umsonst auf seine bis zur Sättigungsgrenze mit Kampfer gepufferte Lösung gekommen, der diese negative Eigenschaft völlig fremd ist, wie in überzeugenden Photos von diesbezüglichen Versuchen dargestellt ist. Castagnola schreibt: „Als Desinfektionsmittel scheiden alle diejenigen aus, die eiweißfällend sind und/oder Formaldehyd abspalten (Chlor, Phenol, Trikresol, Formalin, etc.). Die Behauptungen, in der Walkhoffschen Lösung sei das Chlor verhältnismäßig locker gebunden, was zur Ausbildung von Granulomen führt, widerspricht der allgemeingültigen Auffassung, dass das Chlor sehr fest an den Benzolring gebunden ist und keine freien Chlorionen abgibt, weswegen auch der chemische Nachweis von Chlor mit Sibernitrat weder in der Kälte noch in der Hitze gelingt. Das Chlorphenol tritt als Molekül in Reaktion, ohne die speziellen Chloreigenschaften, von naszierendem Chlor gar nicht zu reden. Walkhoff hat Chlorphenol deshalb gewählt, weil bei der Substitution durch Halogene die Desinfektionskraft der Phenole steigt, wobei am Anfang die Giftigkeit sinkt. Um die eiweißfällende, ätzende Wirkungsweise zu zügeln, suchte man seine Reaktion mit Kampfer zu regulieren. Dabei erwies sich die kampfergesättigte Lösung als reizlos aber dennoch ausreichend bakterizid. Bei der p-Ch-K-M-Komposition werden geringe, gerade erwünschte Mengen von Chlorphenol frei, wie das im chemischen Labor des gerichtsmedizinischen Instituts der Universität Zürich nachgewiesen worden ist. Dabei erleichtert Menthol das Zustandekommen der beiden Komponenten. In den von Prader 1950 veröffentlichten Untersuchungen über die eiweißfällende Wirkung von bei der Wurzelbehandlung gebräuchlichen Medikamenten ergab sich für die Walkhoffsche Lösung im Gegensatz zu anderen Präparaten keinerlei Eiweißfällung. Dabei ist die große Wichtigkeit zu betonen,. die das Fehlen aller Spuren von Alkohol und Wasser für die Gewebefreundlichkeit besitzt“.

c) Da das Wurzelfüllmaterial resorbierbar war (für Walkhoff conditio sine qua non wegen seiner Überfüllung in die infizierten Knochenhohlräume und Fisteln hinein), wurde es auch im Wurzelkanal resorbiert (nicht selten in relativ kurzer Zeit bis zu einem Drittel). Die Anhänger der sogenannten „Fokalinfektion“ behaupteten nun, dass in der Folge dieser Resorption im Kanalinneren ein Hohlrum entstehen würde, in dem die Bakterien fröhliche Urständ feiern würden und infiziertes Sekret aus dem periapikalen Raum austreten könne. Diesem Vorwurf begegnete Castagnola mit der Veröffentlichung histologischer Präparate von seinem Lehrer Prof. W. Heß von ausgeheilten, gangränösen, beherdeten Zähnen, bei denen sich regelmäßig folgender Befund erheben ließ: „Peridontalspalte zückgebildet und durch ein bindegewebig vernarbtes Gewebe ersetzt. Einige neu gebildete Knocheninseln im Gewebe sichtbar. An der Wurzeloberfläche ausgedehnte Resorptionsstellen durch neugebildetes Zement wieder repariert. Im Wurzelkanal hat das eingewucherte Bindegewebe, das nur sehr vereinzelt Rundzellen aufweist, auf beiden Wandungen des resorbierten Wurzeldentins neue Zementlagen gebildet. Röntgenbefund und histologischer Befund stimmen überein. Castagnola zitiert auch eine Arbeit von H. Engel („Die Behandlung infizierter Wurzelkanäle und Granulome nach der Methode von Walkhoff“, D.Z.W. 1933-39.), in der dieser 18 ursprünglich mit Granulomen behaftete Zähne nach Ausheilung und durchschnittlich 61/2 Jahre liegender WF röntgenologisch nachuntersucht, resiziert und histologisch aufbereitet hat. In 15 dieser Fälle zeigte sich eine Ausheilung durch Zementablagerungen an der Wurzelspitze und im Wurzelkanal, die verschiedentlich sogar zum völligen Verschluss des Foramens führten. Durch Knochenneubildung war der Peridontalspalt meistens auf die normale Breite zurückgebildet und nur noch ganz selten leicht verbreitert. Die Vergleiche zwischen Rö und Histologie zeigten in 17 von 18 Fällen Übereinstimmung. In einem Fall war der histologische Befund besser als der röntgenologische. Castagnola schreibt: „Wie Hess (und Engel) histologisch nachweisen, sind die röntgenologisch scheinbar leeren Räume mit Zellgewebe ausgefüllt, das aus dem periapikalen Gewebe hineingewandert ist. Das bestätigt auch die wohlbegründete Überlegung, dass eine Resorption (des Wurzelfüllmaterials) nur durch Zellen bzw. Gewebe stattfinden kann. Damit fällt die Befürchtung, ein Eindringen und Ansammeln von Sekret könnte stattfinden, dahin.“

Insbesondere vor dem Hintergrund des unter b) Beschriebenen fällt es besonders auf, dass sich die Argumentation gegen CHKM bis heute nicht verändert hat. Es werden immer wieder die gleichen Studien zitiert und deren Ergebnisse nacherzählt (insbesondere sind das diejenigen von Byström, Spängberg und Chang) , die die Toxizität und die ätzende Wirkung von CHKM belegen sollen. Liest man sich diese Studien dann einmal durch, bemerkt man auf den ersten Blick, dass es sich nicht um CHKM nach Walkhoff, also um bis zur Sättigung gepufferte Lösungen mit Zusatz von Menthol und ohne Alkohol und ohne Wasser handelt, sondern um Lösungen mit einem viel zu hohen Anteil an (billigem) Chlorphenol und (teurem) Kampfer, die bereits vor 100 Jahren von Walkhoff als Desinfektionsmittel verworfen wurden. Dazu passt, dass ich gerade eine Dissertation aus dem Jahre 2001 aus Hannover gelesen habe, in der steht, dass Endomethasone Formaldhyd enthält, was zeigt, dass der betreffende Doktorant (und sein Doktorvater) lieber olle Kamelen nacherzählt als einmal einfach den Waschzettel zu lesen.

Auf insgesamt 93 Bildern zeigt Castagnola beiendruckende Fälle von ausgeheilten Granulomen, Fisteln und Zysten. Das sieht genau so aus, wie die Beispielseite auf unserer Homepage. Die Parallelen sind wirklich verblüffend. Natürlich brechen ihm auch Instrumente ab und es treten (insbesondere bei der Revision fest abgefüllter Kanäle, weshalb er genau wie wir davor warnt) viae falsae auf , was sicher vor dem Hintergrund von Beutelrock- und Peeso-Bohrern und Walkhoff-Auftreibern (Kerr-Nadeln, Hedström-Feilen und Lentulos gab es aber auch schon, aber sicher nicht in der Stahlqualität von heute) verständlich ist. Nichtsdestotrotz war das für ihn kein Grund, solche Zähne nicht auszuheilen. Er widmet solchen Zwischenfällen vielmehr ein eigens Kapitel mit dem Titel „Üble Zufälle bei der Durchführung der Gangrän-Behandlung“. Da geht es dann auch um die komplikationsfreie Resorption von WF-Material, das in den Alveolaris-Kanal und in die Kieferhöhle überpresst wurde. Interessant ist auch, dass er beschreibt, dass die Fistel immer dann eine gute Prognose für die Ausheilung hat, wenn sie vom Zahn aus durchgängig und durchspülbar ist. Er legt zu diesem Zweck auch künstliche Fisteln an. Ausheilung von Beherdungen nach Revision bestehender insuffizienter Wurzelfüllungen scheinen sein täglich Brot gewesen zu sein. Genauso übereinstimmend mit unseren Erfahrungen berichtet er auch, dass für eine Gangränbehandlung durchschnittlich 5-6 Sitzungen notwendig sind, und dass man bei Misserfolg den Eingriff ruhig noch 2mal wiederholen soll, ehe man zu chirurgischen Methoden greift. Dabei verwendet er beim dritten Versuch dann (genau wie wir) formaldehydhaltige Desinfektionsmittel. Auch mit Calxyl hat er schon gearbeitet und es in der Gangränbehandlung als unzureichend wirksam eingestuft.

Im Ergebnis erreicht er bei der Gangränbehandlung seiner 1000 in 67,8% der Fälle beherdeten Zähne eine Erfolgsrate von 68,2 %, wobei er einen Erfolg (im Gegensatz zu anderen Untersuchern, die schon eine Verkleinerung des Herdes als Erfolg werten) nur bei völliger röntgenologischer Ausheilung annimmt, und beschreibt, dass zu dieser völligen Ausheilung nicht selten mehrere Jahre erforderlich sind. Nicht beherdete Zähne heilen in 72,7 % der Fälle aus, Zähne mit diffusen Herden heilen vollständig in 67,9 % der Fälle aus, diejenigen mit scharf begrenzten Herden vollständig in 63,9 %. Wie nicht anders zu erwarten sind die Erfolge bei einwurzeligen Frontzähnen deutlich höher als bei mehrwurzeligen Molaren.

Insgesamt müsste er sich in unseren Augen mit diesen Ergebnissen auch heute noch nicht zu verstecken, da er auch einräumt, dass er insbesondere bei gekrümmtem Kanalverlauf und den engen Kanälen der Molaren durch seine Aufbereitungsmöglichkeiten limitiert ist. Dies um so mehr als er auch im Gegensatz zu anderen Autoren zahlreiche Fälle zeigt, die einen Eindruck davon geben, wie ungewöhnlich großzügig er die Indikation zur Zahnerhaltung stellt. Vor diesem Hintergrund wird auch überdeutlich, warum Figdor zu Recht von kaum bemerkbaren Fortschritten in der Behandlung apikal beherdeter Zähne in den letzten 100 Jahren spricht.

In seinem Schlusswort schreibt Castagnola:

„Durch die in klinischer, röntgenologischer, bakteriologischer und histopathologischer Nachprüfung gegebenen Beweise für die Erfolgsmöglichkeiten der Methode Walkhoff wird deren Gegnern der größte Teil ihrer Argumente widerlegt. Auch den Anhängern der Lehre der Fokalinfektion, welche den dentalen Anteil an dieser Erkrankung maßlos übertrieben und dadurch enorme Verluste an Zähnen und Kaukraft verursacht haben, wird die vorliegende Arbeit beweisen, dass auch konservierende Methoden zum Ziele führen. Inwieweit das schon sogar im Ursprungsland der „focal infection“ der Fall ist, zeigen in immer vermehrtem Maße vorliegende Äußerungen und Anregungen amerikanischer Autoren. Man kehrt reumütig zur exakten Wurzelbehandlung zurück, wobei wir die Hoffnung hegen, dass dabei auch der Walkhoff-Methode der ihr gebührende Platz eingeräumt wird (Gottlieb, Coolidge, S. Barron, S. Breube, J. Grossman, u.a.). Die kritiklose, auf jede konservierende Maßnahme verzichtende Anwendung rein chirurgischer Methoden zur Behebung periapikaler Erkrankungen wird auf solche Art richtiggestellt, dass beide Therapien der ihnen gebührende Platz zufallen muss.“

Dem ist aus unserer heutiger Sicht kaum noch etwas hinzuzufügen, außer vielleicht, dass es völlig irre ist, wie viel Wissen und Erfahrung aus welchem Grunde auch immer vergessen oder verdrängt werden kann, wobei die Frage unbeantwortet bleibt, wie viel Abermillionen Zähne das der Zange zugeführt haben mag. Gerade durch das Eingeständnis, aufgrund eines mangelhaften Instrumentariums in der mechanischen Aufbereitung der Wurzelkanäle zur Schaffung eines guten Zugangs für das Desinfektionsmittel zum Entzündungsgeschehen, sehen wir uns in unserer Auffassung bestätigt, dass es die Kombination aus gründlicher und weiter Aufbereitung der Hauptkanäle und sorgfältiger Desinfektion mit einem potenten Desinfektionsmittel ist, die den beispiellosen Erfolg unseres Protokolls gewährleistet.

Aber auch das ist (leider) nichts Neues, da es Walkhoff ganz offensichtlich schon vor 100 Jahren gewusst hat.